Der erste Projektbericht aus Athen
Be With Us – Eine Einladung
Nico (wird 2 Jahre alt) und Sarah (30 Jahre alt) aus dem Irak
Sham (4 Jahre alt) und Reem (28 Jahre alt) aus Syrien
Hermon aus Eritrea (26 Jahre alt)
Fatoumata aus Guinea (gerade 18 Jahre alt)
Nawid aus Afghanistan (20 Jahre alt)
Bijan aus Iran (30 Jahre alt)
Sadek aus Afghanistan (15 Jahre alt)
Manoushe aus Afghanistan (22 Jahre alt).
Vor einer Woche waren es auch
Amir und Hamed aus Afghanistan (beide 16 Jahre alt)
und Ali aus dem Irak (30 Jahre alt).
Und bis vor drei Wochen Barah aus Syrien (20 Jahre alt).
Und, und, und….
Ich erinnere mich an jeden einzelnen, Namen, Gesicht, Alter, Verzweiflung, Zorn, Trauer, Tränen, Hoffnungen, Dankbarkeit und an ihr Lachen.
In den vergangenen fünfeinhalb Jahren sind mehr als 80 geflüchtete Menschen unserer Einladung gefolgt. Be with us in der Athener Gemeinde der Evangelischen Kirche Deutscher Sprache in Griechenland. Als Kirche und Gemeindehaus vor fast 90 Jahren gebaut wurden, hatten die Architekten unter der Kirche fünf und im Gemeindehaus noch einmal vier Gästezimmer geplant, zur Unterbringung von Pilgern, Diakonissen, Vikaren, Studierenden oder Menschen, die alt geworden und in Not geraten waren. Dazu kommen noch einmal zwei Zimmer im Erdgeschoss des Gemeindehauses, die für den Küster bzw. die Küsterin bestimmt waren.
Inzwischen gibt es ein deutschsprachiges Altenheim, seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise Griechenlands keine Küsterin mehr, schon lange keine Diakonissen mehr, Vikare, Pilger und Studierende nur vereinzelt. Letztere verweisen wir auf Airbnb, seit es tausende von obdachlosen Geflüchteten in Athen gibt, die dringend unsere Hilfe brauchen. Airbnb offeriert gute und günstige Alternativen zu den Zimmern der Kirche für zahlungskräftige Gäste, nicht aber für Geflüchtete, die zudem weit mehr als nur ein Dach über dem Kopf brauchen.
Über unsere Flüchtlingsarbeit haben wir Vincent und das Team von Equal Rights Beyond Borders kennengelernt, über Vincent Sabine, über Sabine Christina. So ist das: ohne Netzwerk ist keine vernünftige Arbeit möglich. Zumal für eine solch kleine Einrichtung wie unsere Kirchengemeinde. Seit wir mit Vincent, Sabine und Christina in Kontakt stehen, aber auch durch unsere Erfahrungen der letzten Jahre hat sich unsere Flüchtlingsarbeit sukzessive verändert.
Inzwischen glaube ich, dass unser Erfolg darin liegt, dass wir die zu uns kommenden Menschen nicht nur unterbringen, sondern sie einladen, bei uns zu sein, mit uns zu leben, Leben in Ruhe und Frieden wieder zu erlernen.
Die Entwicklung der Flüchtlingssituation, politische Entwicklungen, aber auch die Entwicklung unserer Kirchengemeinde machen es erforderlich, dass wir immer wieder umdenken und Kurskorrekturen vornehmen, ohne großartig planen zu können, ohne Zeitfenster, ohne große finanzielle Mittel, mit Entscheidungen, die aus dem Bauch kommen, die das Herz diktiert und die dennoch auch rational begründet werden können.
So war es auch bei meiner ersten Begegnung mit Sabine, deren Wunsch es war, dass die Spenden ihres Berliner Vereins minderjährigen oder zumindest sehr jungen Menschen helfen mögen.
Der erste Kandidat war Manoushe, der sich selbst aus dem Lager auf Lesbos befreit hat und in Athen ein paar Nächte auf der Straße war. Vincent und Robert von Equal Rights brachten ihn an einem kalten Januarabend persönlich zu uns. Das Bauchgefühl sagte, bei uns ist er am richtigen Platz. Es hat mich nicht enttäuscht. Manoushe zog zu Ali ins Zimmer. Er ist Everybody‘s Darling, Hausmeister, Babysitter für unsere beiden Kleinen, immer freundlich, hilfsbereit, schnell und umsichtig und sehr, sehr dankbar und vernünftig.
Ein paar Tage später kam Niki von Equal Rights und brachte Fatoumata. Gerade 18 Jahre alt geworden, wurde sie aus einem staatlichen Unterbringungsprogramm für minderjährige Flüchtlinge entlassen, war ein paar Tage auf der Straße, wurde vergewaltigt, ein paar Nächte im Krankenhaus, dann in „Schutzhaft“ bei der Polizei, dann hockte sie frierend im Eingang von Equal Rights. Bauchgefühl: sie braucht heute Abend ein warmes, sauberes Bett. Ich bitte Hermon, sie behutsam und liebevoll in ihrem geräumigen Zimmer aufzunehmen. Inzwischen hat sie ihr eigenes Zimmer, ist glücklich, fühlt sich sicher und umsorgt, lacht wieder und versorgt alle mit Reis und Bananen. Ihre Quelle behält sie für sich. Sie trägt wieder hübsche Kleider und passende Kopftücher, die sie kunstvoll um ihren schönen Kopf wickelt.
Zwei Wochen danach ruft Christina von Children‘s Rights an. SOS. Zwei völlig verängstigte afghanische Jungen vor der Tür im Athener Bahnhofsviertel. Bring sie!, so wieder das Bauchgefühl. Ich bitte Hermon und Manoushe, ihnen ein Zimmer unten bei Bijan in der Küsterei zu bereiten. Bijan spricht Farsi, ist ruhig und warmherzig. Die Jungen blühen auf. Doch schon nach wenigen Wochen können sie gehen, sie wurden in eins der staatlichen Unterbringungsprogramme für minderjährige Flüchtlinge aufgenommen, für das sie bereits einen Antrag gestellt hatten, als sie zu uns kamen.
Zimmer frei für Sedek aus Afghanistan. Auch über Children‘s Rights zu uns gekommen. Sedeks Schwester ist in Schweden. Da will er hin. Ich organisiere über die schwedische Kirche in Athen schwedischen Sprachunterricht, dreimal die Woche. Sedek strahlt, der Unterricht mit zwei anderen afghanischen Jungen und Lehrerin Victoria im schönen Gemeindehaus der schwedischen Gemeinde in der Plaka von Athen macht ihm viel Spaß. Dort hat er auch Sommerkleidung bekommen und Bijan hat ihm Flip Flops gekauft. Außerdem freut er sich, wenn wir donnerstags immer zusammen kochen und essen.
Nawid hat Hamburger für alle gemacht. Russische Piroggen und meine Schnitzel aus Putenfleisch mit Kartoffelsalat schmecken auch allen ganz vorzüglich. In den nächsten Wochen wollen wir – wie jeden Sommer – ans Meer fahren. Chris, unser Kantor und Organist gibt Manoushe, Nawid und Bijan Musikunterricht. Alle außer Fatoumata und Sedek kommen jeden Morgen zu Kornelia, unserer Lehrerin, zum Deutsch- und Integrationsunterricht. Der Garten lädt zum Grillen ein, Martin, ein Theologiestudent, verbringt viel Zeit mit unseren Flüchtlingen. Samstag ist Kinderparty. Nico wird zwei Jahre alt. Alle freuen sich, als wär‘s ihr Fest. Es wird ein geniales Fest, denn hier ist Raum und Zeit für Feste. Hier können alle unsere jungen Freunde ein kleines bisschen unbeschwerte Kindheit nachholen.
Bijan sitzt am Klavier, er übt täglich zwei bis drei Stunden. Jetzt gerade „Zum Geburtstag viel Glück“ und Happy Birthday. Für Samstag! Für Nico! Für jeden von uns, die wir mit Spielen, Musik und Tanz feiern werden.
Und wer weiß? Vielleicht sitzen am Samstag schon wieder neue junge Geflüchtete mit uns im Garten. Christina und Niki wissen, dass wir, wenn alle etwas zusammenrücken, noch vier Betten frei hätten und dass sie jederzeit bei uns anrufen können.
Was wir von Ihren Spenden teilfinanzieren:
die uns entstehenden Kosten für die Unterbringung (Strom, Wasser, Heizung/Kühlung)
kleinere Reparaturen und Inventarergänzung (aktuell Reparatur von zwei Waschmaschinen)
ärztliche und medizinische Versorgung (wann immer erforderlich)
30,- Euro pro Person und Woche für Lebensmittel
einmal pro Woche gemeinsames Mittagessen aller (60-70 Euro)
Unterrichtsmaterial und Gebühren für Sprachprüfung am Goethe Institut
Aufwandsentschädigung für die Deutschlehrerin
Kleidung (vor allem und in jedem Fall Unterwäsche!) und Schuhwerk, wenn nicht passend in unserer Kleiderkammer vorhanden
Reinigungsmittel und Hygieneartikel (in den vergangenen drei Monaten kostenintensiv wegen Corona)
sporadische kleine Ausgaben für Freizeitaktivitäten
Athen, 9.7.2020